Editorial: Harmonische Zusammenarbeit von Mensch und Maschine in der chemischen Synthese
Graphical Abstract
Die chemische Synthese ist zum heutigen Stand noch auf arbeitsintensive Prozesse angewiesen. Wir postulieren nun schon seit einigen Jahren eine maschinell unterstützte Synthese. Es ist zwar unrealistisch, einen Laborchemiker durch eine Maschine ersetzen zu wollen, realistisch ist es dagegen, die zahlreichen neuartigen Geräte und Konzepte zu nutzen, um uns neue Perspektiven zu eröffnen …”. Lesen Sie mehr im Gast-Editorial von Steven V. Ley.
Wir postulieren schon seit einigen Jahren eine maschinell unterstützte Synthese. Dieser Ansatz ist aus vielen Gründen sinnvoll, nicht zuletzt, weil er die menschliche Schaffenskraft optimal nutzt, die Effizienz steigert, und den Forschern mehr Zeit zum Denken, Planen und Entdecken lässt. Wie überall in den Naturwissenschaften führt auch hier eine Kooperation zwischen den einzelnen Disziplinen zu synergistischen Effekten. Die Entwicklung vielstufiger chemischer Synthesen beruht bereits auf einem holistischen Ansatz, der eine komplette Integration aller chemischen Schritte mit dem Aufbau des Reaktionssystems und der erforderlichen Informatik vorsieht. Methoden der Strömungschemie sind ein zusätzlicher Baustein dieses Ansatzes. Durch Verknüpfung mit üblichen Batch-Methoden ergeben sich neue Möglichkeiten für robustere Prozesse, die besser rückgekoppelt sind und leichter kontrolliert werden können. Die Koordination mehrerer Geräte mithilfe billiger Mikroprozessoren wie Arduino und Raspberry Pi hebt die Labororganisation auf eine neue Stufe und ebnet den Weg für Lernprozesse von Maschine zu Maschine und die bevorstehende Umstellung auf künstliche Intelligenz.
Techniken aus “Augmented Reality” und “Virtual Reality” haben bei der Präsentation von Forschungsergebnissen längst Einzug gehalten. Digitalkameras zur Verfolgung schneller Prozesse oder zur Wärmebildgebung liefern kinetische Daten und tragen zur Sicherheit von Experimenten bei. Auch der Einsatz von Sichtfeld-Displays und anderen tragbaren oder Handgeräten wird bald selbstverständlich sein. Selbst so einfache Elemente wie Abzüge können mit Energiesparoptionen und mit Gesichtserkennungs-Software ausgestatten werden, um Geräteeinstellungen während des Betriebs dynamisch anzupassen. Mobilität und Flexibilität sind weitere Merkmale moderner Laboratorien. Repetitive Schritte bei Maßstabsvergrößerung, Reaktionsoptimierung und bei der Suche nach neuen Reaktionen können auf Maschinen und Roboter übertragen werden. Man darf allerdings nicht vergessen, dass eine Synthese eine hoch komplexe Unternehmung sein kann, und dass es einige Zeit dauert, sich die nötigen breitgefächerten Fähigkeiten und Erfahrungen anzueignen. Außerdem hat der Zufall manchmal seine Hand im Spiel. Es ist also doch nicht so einfach, Synthesen zu automatisieren.
Als Synthesechemiker mit langjähriger Erfahrung bin ich mir der Tatsache bewusst, dass es nicht nur unrealistisch, sondern schlichtweg unmöglich ist, einen Laborchemiker durch eine Maschine zu ersetzen. Realistisch ist es dagegen, die zahlreichen neuartigen Geräte und Konzepte zu nutzen, um uns neue Perspektiven zu eröffnen. Der Begriff “Automatisierung” ist daher keineswegs geeignet, um unsere zukünftigen Möglichkeiten zu beschreiben. Maschinen werden uns bei der Entscheidungsfindung helfen, Lernprozesse vereinfachen und das Verständnis verbessern.
Rechenalgorithmen und Vorhersageverfahren sollten bei keinem modernen Syntheseprojekt fehlen. Interessanterweise ist aber auch die Art und Weise, wie wir Elektronen für einen chemischen Prozess bereitstellen, etwa bei den immer beliebter werdenden elektro- oder photochemischen Methoden, auf innovative Ausrüstung angewiesen. Der Einsatz von Enzymen in Synthesen geht über deren grundlegende Biotransformationen hinaus und schließt gerichtete Evolution, Immobilisierung und Wiederverwendung der Systeme in vielstufigen Anwendungen mit ein. Kompartimentalisierungsverfahren, Pfropfenströmungsreaktoren und sequenzielle Prozessierung sind Konzepte, die an die Organisation komplexer funktioneller Materialien in Zellen erinnern. Hier gibt es noch vieles zu lernen, etwa wie Mikrofluidik mit integriertem maschinell unterstütztem Screening die Frühphase bei der Suche nach neuen Molekülen vereinfachen kann.
Fortschritte bei der Nutzung von Strömungschemie zur Echtzeitverfolgung führten zu einer weiteren Miniaturisierung und zu neuen NMR-, IR- und UV-Geräten für die Laborbank sowie zu Mini-Massenspektrometern. Dadurch wurde es Synthesechemikern erleichtert, mehrstufige Reaktionen in verknüpften Reaktoren zu untersuchen, wobei Kontroll-Software wie LabView zum Einsatz kam. Um diesen neuen Ansätzen gerecht zu werden, muss das heute übliche elektronische Laborjournal (“electronic laboratory notebook”, ELN) gründlich überholt werden.
Wir beherrschen es mittlerweile recht gut, Moleküle zu entwerfen und zu synthetisieren, bei der Isolierung und der Behandlung von Abfallprodukten sind aber noch größere Innovationen vonnöten. Der Wechsel von Lösungsmitteln zwischen Reaktionsschritten stellt nach wie vor ein Problem dar; es wurden bereits entsprechende Vorrichtungen entworfen, diese sind aber stark verbesserungsfähig. Immobilisierte Reagentien und selektive Abfangreagentien, die strömende Reaktionsmischungen reinigen, sind besonders attraktiv für vielstufige Synthesesequenzen, ihr Potenzial ist aber noch nicht ausgeschöpft. Automatisierte Flüssig-flüssig-Trennverfahren auf der Grundlage von Schwerkraft oder Membranen sind verfügbar, um die Integration von Batch- und Strömungsmethoden zu unterstützen. Der Umgang mit Suspensionen und Feststoffen stellt nach wie vor besondere Anforderungen an die Ausrüstung.
Durch den Einsatz von Strömungsmaschinerie sind viele Gebiete der Chemie, die von jeher als problematisch für Batch-Prozesse galten, seit kurzem durch kontinuierliche Prozessverfahren beherrschbar; Beispiele hierfür sind exotherme Reaktionen, insbesondere solche mit wasser- und luftempfindlichen metallorganischen Reagentien. Der dynamische Wärme- und Massetransfer ermöglicht überdies neue chemoselektive Prozesse. Notorisch gefährliche Stoffe wie Diazoverbindungen und andere reaktive Intermediate werden in modernen Strömungsreaktoren sicher gehandhabt. Entsprechend lassen sich Systeme entwickeln, in denen reaktive Gase in ein- oder mehrstufigen Prozessen umgesetzt werden. Giftige Gase wie HCN, CO, H2 und CH2N2 können nach Bedarf erzeugt und direkt zum Aufbau nützlicher Produkte verbraucht werden.
Die “grüne Chemie” diente über 20 Jahre als Leitfaden für Synthesechemiker, nun ist es aber an der Zeit, ihre Agenda zu aktualisieren. Zwar sind viele maschinell unterstützte Techniken ohnehin mit den Grundsätzen der “grünen Chemie” vereinbar, wir müssen aber weiter gehen und noch verantwortlicher handeln. Dazu zählt auch, Routinetätigkeiten und arbeitsintensive Prozeduren vom Mensch auf die Maschine zu delegieren, sodass beide harmonisch zusammenarbeiten.