Editorial: Das Europäische Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) – sein Geburtstag und seine Chemie
Das EMBL wird in diesem Jahr 40. Wissenschaftler, die die enorme Weitsicht besaßen, dass das Gebiet der Molekularbiologie in absehbarer Zeit förmlich explodieren würde, gründeten 1964 die European Molecular Biology Organisation (EMBO). Sie feiert in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag. 1974 folgte dann die Gründung des EMBL. Während die EMBO als Verlag, als Drittmittelgeber für Studenten und Konferenzen sowie als Organisator in ihrem Forschungsfeld fungiert, wurde das EMBL als EMBO-unabhängige, internationale Forschungseinrichtung in Anlehnung an das CERN gegründet. Das EMBL wird derzeit von einundzwanzig Mitgliedstaaten und zwei assoziierten Nationen (Australien und Argentinien) finanziert. Die Slowakische Republik bereitet gerade ihre Mitgliedschaft vor.1
Das EMBL-Konzept
Die Absicht war und ist es, für die europäische wissenschaftliche Gemeinschaft Technologie auf höchstem Niveau und zugleich das notwendige Training in den Aspekten der Molekülwissenschaften zur Verfügung zu stellen, insbesondere wo diese nicht oder noch nicht an Universitäten und Forschungsinstitutionen in Europa verfügbar sind. Dazu gehört das Neueste in der Elektronen- und Lichtmikroskopie genauso wie in der Kristallographie durch die EMBL-Einrichtungen in Hamburg, Grenoble und Heidelberg. Zum EMBL gehört auch das größte europäische Bioinformatikzentrum am European Bioinformatics Institute (EBI) in Hinxton, Großbritannien, und ein großes Mauslaboratorium in Monterotondo bei Rom. Wissenschaftlich entwickelte sich das EMBL in den letzten vierzig Jahren zum europäischen Flaggschiff in der Molekularbiologie und rangiert häufig unten den Institutionen mit dem höchsten Ausstoß an Veröffentlichungen und den meisten Zitierungen weltweit. Sein unzweifelhafter Erfolg basiert im Wesentlichen auf einigen organisatorischen Besonderheiten, die geholfen haben, eine einzigartige Gemeinschaft von Wissenschaftlern und nichtwissenschaftlichen Mitarbeitern ohne eine ausgeprägte Hierarchie zu schaffen.
Seit Mitte der 1980er Jahre sind die Arbeitsverträge der meisten Wissenschaftler, Verwaltungsangestellten und Techniker auf maximal neun Jahre begrenzt. Das Ziel ist es, den talentiertesten Nachwuchswissenschaftlern die Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen, um in ihrer Disziplin im gegebenen Zeitrahmen weltführend zu werden. Danach werden sie ausgeschickt, um die europäischen Institutionen und Universitäten mit ihrem Wissen zu befruchten. Das Labor unterhält ein ungewöhnlich kooperatives Umfeld, zum Teil durch eine begrenzte Raumzuweisung pro Arbeitsgruppe, zum Teil durch den Einsatz von Zentraleinheiten, die die jungen Gruppenleiter weitestgehend davon befreien, Anträge für Großgeräte zu stellen, die oft erst nach Jahren voll funktionsfähig sind. Der zeitlich begrenzte Aufenthalt der Wissenschaftler sichert außerdem eine enorme Flexibilität bei der Einführung neuer Forschungszweige. Tatsächlich wurden in der Vergangenheit ganze Forschungseinheiten aufgelöst oder umgebaut, und neue Forschungsrichtungen konnten eingerichtet werden, kurz nachdem sie sich in der Forschungslandschaft abgezeichnet hatten.
Chemie am EMBL
Die Chemie als Forschungsrichtung am EMBL ist eines der Beispiele. Ursprünglich wurde sie als notwendige Ressource angesehen, um Proteinchemie für die Kristallographie, Oberflächenchemie für Arrays und ausgefeilte Synthesen für die Herstellung von Oligonucleotiden zu liefern. Insbesondere nachdem sich die Polymerasekettenreaktion (PCR) etabliert hatte, wurden die meisten dieser “Dienstleistungen” in den 1990er Jahren von kommerziellen Anbietern übernommen, und es wurde ruhig in den Chemielabors des EMBL. Zu dieser Zeit wurde jedoch ein analytischer Aspekt der Chemie zur Gallionsfigur der Technologieentwicklung am EMBL: die Verwendung der Massenspektrometrie für das Sequenzieren von Proteinen, das die Basis für die Proteomik lieferte. Die Schlüsselpublikationen der EMBL-Wissenschaftler Matthias Mann, Matthias Wilm, Andrej Shevchenko et al. 1996 in Analytical Chemistry gehören zu den meistzitierten Chemiepublikationen in dieser Dekade.
Als Disziplin wurde die Chemie am EMBL wiedergeboren, als die chemische Genetik populär wurde und sich einige Bereiche der Biologie von einer zellhaufen- zu einer einzelzellbasierten Wissenschaft veränderten. Die Voraussicht der EMBL-Führung und Vorschläge des internationalen wissenschaftlichen Beratergremiums führten zwischen 2001 und 2008 zur Etablierung mehrerer chemischer Arbeitskreise, von denen zwei präparative organische Chemie betreiben (Maja Köhn und unsere Gruppe), eine mehr auf die biophysikalische Chemie spezialisiert ist (Edward Lemke) und zwei Teams am EMBL-EBI sich mit der Chemoinformatik befassen. Dabei ist wichtig, dass die drei Experimentalgruppen in drei verschiedenen Einheiten zuhause sind. Dies gewährleistet einen maximalen Kontakt der Chemiker mit aktuellen biologischen Problemen und bringt den Biologen die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Chemie nahe. Die Entscheidung, unabhängige Chemiegruppen einzurichten, machte es notwendig, eine Zentraleinheit für chemische Biologie zu etablieren, die Molekülbibliotheken, Roboter und Testsystementwicklung bereitstellt. In Kooperation mit der Universität Heidelberg und dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg und cofinanziert durch diese Einrichtungen hat die Zentraleinheit einer Reihe von Forschergruppen geholfen, interessante niedermolekulare Verbindungen zu finden. Dies hat bereits zur Gründung mehrerer Start-up-Firmen geführt. Zurzeit installieren die drei Einrichtungen ein medizinalchemisches Labor, um zu helfen, Treffer aus den Screens der Zentraleinheit zu Leitverbindungen zu entwickeln.
Wie sehr soll ein Chemiker zum Biologen werden?
In der Zwischenzeit haben die drei experimentellen Chemiegruppen am EMBL sich darauf fokussiert, neue direkt anwendbare Synthesemethoden zu entwickeln. Tatsächlich es gibt es dringende biologische Probleme, die ohne die Hilfe innovativer Werkzeuge aus den Chemielabors nicht gelöst werden können. Am EMBL sind wir davon überzeugt, dass diese wechselseitige Befruchtung dann besonders erfolgreich funktioniert, wenn die Chemiker so stark mit der Biologie verbandelt sind, dass sie beginnen, ihre eigenen biologischen Fragestellungen zu verfolgen. Offensichtlich muss der Chemiker dazu bis zu einem gewissen Grad Biologe werden.
Da ein Teil der biologischen Grundlagenforschung sich auf immer kleinere Maßstäbe fokussiert, kommt er automatisch der Molekülebene immer näher. Es ist daher nur natürlich, dass Wissenschaftler in diesem Bereich eines guten Verständnisses der molekularen Details bedürfen. Per definitionem sind dies häufig Chemiker, und traditionell haben viele Strukturbiologen eine Chemieausbildung und einen entsprechenden Abschluss. Allerdings haben sich heute die Anforderungen verändert.
Die Zelle als Reagenzglas
Uns wird allmählich bewusst, dass viele biologische Prozesse in Zellen sehr viel schneller ablaufen und komplizierter miteinander verknüpft sind, als wir es im Reagenzglas simulieren können. Daher kann man postulieren, dass die intakte Zelle das geeignetere Reagenzglas sei. Da die zu untersuchenden Moleküle in diese Zellen eindringen müssen, benötigen wir ein besseres Verständnis davon, wie Moleküle Membranen überwinden, wie sie metabolisiert werden und wie sie sich in Zellen verteilen. Die entsprechenden Experimente setzen neue nichtinvasive Techniken voraus, um Farbstoffe anzubringen, die uns erlauben, Moleküle zu zählen, neue Reportermoleküle, um Enzymaktivitäten quantitativ zu messen, und niedermolekulare Verbindungen, die in der Lage sind, mit komplexen biologischen Systemen in hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung zu interagieren. Wenn man diese Idee weiterspinnt, könnte es von Interesse sein, das biologische (Zell)system zu vereinfachen, indem man die Teile der Zelle entfernt, die nicht zu dem zu untersuchenden Phänomen beitragen, dabei aber die katalytischen Bedingungen der Zelle erhält. In letzter Konsequenz könnte das Resultat eine Form von “synthetischer Biologie” sein. Das Wort “Synthese” könnte dann für die Brücke zwischen dem Bauen von Molekülen und dem Bauen einer Zelle oder zumindest eines Teils einer Zelle stehen. Mir ist bewusst, dass einige Kollegen wahrscheinlich eine völlig andere Vorstellung davon haben, was synthetische Biologie bedeutet.
Sowohl die synthetische Biologie als auch die Zellbiologie benötigen eine Chemie, die in intakten Zellen ausgeführt werden kann. In dieser Hinsicht ist das Gebiet noch am Anfang, aber mit neuen bioorthogonalen Reaktionen, z. B. der Klickchemie, die jedes Jahr dazukommen, werden wir bald in der Lage sein, wirksame Modulatoren und Reporter in intakten Zellen herzustellen. Hier bedarf es Vorstellungskraft einerseits und des Wissens um chemische Reaktionen, die schon halb in Vergessenheit geraten sind, andererseits, damit es Chemikern gelingt, die Chemie in lebende Zellen zu bringen. Wieder wird die Zelle zum Reagenzglas – eben auch für chemische Reaktionen.
Es scheint nicht verwegen zu erwarten, dass künftige Generationen von Chemikern zunehmend dazu beitragen werden, komplexe biologische Probleme zu lösen. In vielen Bereichen der Lebenswissenschaften ist die Chemie bereits heute essenziell. Je mehr Chemiker willens sind, sich in biologische Fragestellungen zu vertiefen, desto näher rücken wir einer wirklichen Interdisziplinarität. Ein Institut für die biologische Grundlagenforschung wie das EMBL ist ein phantastischer Ort für solche Projekte und für Chemiker.