Durchbrüche bei der hochenergetischen Röntgenbeugung: Multiskalenstrategien in der heterogenen Katalyse†
Diese Arbeit wurde durch das NWO Gravitation Program, das Netherlands Center for Multiscale Catalytic Energy Conversion (MCEC) und den European Research Council (ERC) Advanced Grant (321140) unterstützt.
Graphical Abstract
Ein harter Job für harte Strahlen: Die moderne heterogene Katalyse würde von einem Multiskalenansatz profitieren, der die molekulare mit der makroskopischen Welt verbrückt. Jüngste Entwicklungen bei der Röntgenbeugung an Oberflächen, der Röntgenbeugungstomographie von Katalysatorkörpern und der Messung von Reaktorprofilen haben solche Strategien zur Untersuchung heterogen-katalytischer Prozesse in Reichweite gerückt.
Seit Max von Laues ersten Beugungsmustern vor etwas mehr als einhundert Jahren ist die Röntgenbeugung (XRD) zu einer unverzichtbaren Methode für die Strukturaufklärung entwickelt worden.1 Ein zentraler Durchbruch war die Anwendung von Synchrotronstrahlung in der XRD, und eine Vielzahl von Synchrotron-Einrichtungen weltweit stellen heute hochgebündelte Röntgenstrahlen von höchster Brillanz und justierbaren Energien bereit. Harte Röntgenstrahlen (mit Energien im Bereich 5–100 keV) ermöglichen aufgrund ihrer hohen Eindringtiefen Untersuchungen von Materialen bei höheren Temperaturen und Drücken, bei zugleich reduzierter Strahlenschädigung des Substrats. Damit sind harte Röntgenstrahlen prädestiniert, um heterogene Katalysatoren unter realen Bedingungen und auf unterschiedlichen Größenskalen zu verfolgen, z. B. auf der Ebene der aktiven Oberfläche des Katalysatormaterials, des Katalysatorkörpers im Reaktor oder des gesamten Reaktors selbst. Ein solcher übergreifender Ansatz ermöglicht die vollständige Multiskalenanalyse der Dynamik strukturell komplexer katalytischer Materialien. Am Beispiel bahnbrechender Fallstudien (wie in Abbildung 1 skizziert) unterstreichen wir in diesem Highlight das Potenzial harter Röntgenstrahlen für Multiskalenstrategien zur Untersuchung heterogen-katalytischer Prozesse.

Die Möglichkeit einer Multiskalenstrategie zur Untersuchung heterogen-katalytischer Prozesse mit modernsten Röntgenbeugungsmethoden wird anhand dreier neuerer Fallbeispiele illustriert. a) Atomistisches Modell einer Pd-Oberfläche und Oxidation von CO.2 b) Ein einzelnes Beugungsbild, das sämtliche während der Probenrotation gesammelten Aufnahmen zusammenfasst. Zu erkennen sind einzelne Kristallabbruchstreifen und Übergitterstreifen.2 c) Pd/Al2O3-Katalysatorkörper und Partikelgrößenverteilung, ermittelt durch das PDF-CT-Verfahren.3 d, e) Experimentelle und angeglichene Paarverteilungsfunktionen für einzelne Pixel an der Grenzfläche (d) und im Inneren (e) des Katalysatorkörpers.3 f) Schematische Darstellung des Kapillarreaktors zur Durchführung der MTO-Reaktion; gezeigt sind kristallographische Veränderungen über die Katalysatormatrix. Die Farbskala (von blau nach rot) zeigt eine Ausdehnung der kristallographischen c-Achse unter realen Bedingungen an.4 g) Vergleich der Streudiagramme eines z-Scans der MTO-Reaktion in einem großen Reaktor und einem Kapillarreaktor (rote Linie). Abbildungen nach Lit. 2–4.
XRD erfasst typischerweise das Festkörperinnere, während die Beschreibung von Grenzflächenstrukturen auf Modellkatalysatoren beschränkt ist, etwa auf Adsorbate auf atomar flachen Terrassen von Einkristallqualität (Abbildung 1 a). Unter Verwendung einer neuartigen Oberflächenbeugungsgeometrie konnten Gustavson et al.2 nun den Einsatz hochenergetischer Röntgenstrahlen (85 keV) unter streifendem Einfall, d. h. mit sehr flachem Einfallwinkel, gegen eine Oberfläche demonstrieren. Die Streuung von Röntgenstrahlen an der Oberfläche führt normalerweise zu einer Verschlierung der Bragg-Reflexe, den sogenannten Kristallabbruchstreifen (crystal truncation rods; CTRs). Selbst modernste Oberflächenbeugungsmessungen sind durch die langsame Detektions- und Abtastrate kleinflächiger 2D-Röntgendetektoren limitiert. In dem beschriebenen Experiment bewirken die hohen Strahlenergien hingegen eine Aufweitung der Ewald-Kugel, einhergehend mit einer Kontraktion des reziproken Gitters, womit deutlich größere Ausschnitte der CTRs simultan abgetastet werden können. Durch Verwendung hinreichend großer Detektoren können auch mehrere Reflexe gleichzeitig erfasst werden (Abbildung 1 b). Dies führt zu einer um mehrere Größenordnungen höheren Aufnahmegeschwindigkeit und erlaubt die In-situ-Verfolgung von Oberflächenrekonstruktionen mit einer zeitlichen Auflösung unterhalb des Sekundenbereichs. Im Fallbeispiel wird dies anhand der Oxidation von CO an einer hochaktiven Pd-Oberfläche illustriert. Nach der Methode von Gustavson et al. können Strukturinformationen wie Gitterparameter und Atomlagen ebenso wie Aussagen über Oberflächenterminierung und mechanischen Stress abgeleitet werden. Betrachtungen dieser Art sind wichtig für Fragestellungen der heterogenen Katalyse, ebenso wie für die Erforschung von Grenzflächenphänomenen, z. B. der Fest/flüssig-Phasengrenzen elektrochemischer Zellen. Da selbst einzelne solcher Oberflächenbeugungsexperimente sehr große Datenmengen anhäufen, sollte die Bedeutung computergestützter Methoden für die Visualisierung und Interpretation der Messdaten nicht unterschätzt werden. Viele Experimente erfordern validierte Ab-initio-Modelle zur Unterstützung, und nur das Zusammenspiel zwischen theoretischen und experimentellen Ansätzen kann ein vollständiges Verständnis der Dynamik aktiver fester Phasen ermöglichen.
Ein intrinsischer Nachteil konventioneller Beugungsmethoden besteht darin, dass sie für amorphe oder nanokristalline Komponenten “blind” sind. Ein vielversprechender Ansatz, um auch kleine Nanopartikel (mit Durchmessern <2 nm) mit Beugungsmethoden zu untersuchen, eröffnet sich jedoch mit der Analyse von Paarverteilungsfunktionen (pair distribution functions; PDFs). Eine Paarverteilungsfunktion beschreibt die Wahrscheinlichkeit, ein Paar von Atomen in einem bestimmten Abstand im Realraum vorzufinden. Da sie das vollständige Bragg- und diffuse Streusignal erfasst, enthält eine PDF auch lokale Strukturinformationen von nanokristallinen und amorphen Materialien. Eine neue Arbeit von Jacques et al. demonstriert das Potenzial der PDF-Computertomographie (PDF-CT) zur Gewinnung von Informationen über nanokristalline und amorphe Materialien.3 Das Fallbeispiel eines mm-großen γ-Al2O3-Katalysatorkörpers mit dispergierten Pd/PdO-Nanopartikeln lässt erwarten, dass die Methode Informationen über die dreidimensionale Verteilung von multiplen kristallinen und amorphen Phasen in komplexen katalytischen Systemen liefern kann. Tatsächlich ist es mit der PDF-CT-Methode gelungen, die Größe und Verteilung trägerfixierter Pd-Nanopartikel in 3D aufzulösen (Abbildung 1 c) – und zwar nicht nur beugungsfähige Partikel von 4.5 nm (Abbildung 1 d), sondern auch “stumme” Partikel von nur 1.4 nm Größe (Abbildung 1 e).
In-situ-Studien katalytischer Prozesse, eventuell sogar auf der Ebene des gesamten chemischen Reaktors, sind eine massive Herausforderung. Neuere Arbeiten von Wragg et al. haben nun die Möglichkeit aufgezeigt, Beugungsmethoden für Studien der Methanol-zu-Olefin(MTO)-Reaktion an industriell gebräuchlichen mikroporösen SAPO-34-Katalysatoren einzusetzen.4 Anstelle eines gewöhnlichen Ein-Punkt-Experiments wurden die Vorgänge im kapillaren Reaktormodell durch schnelles Scanning räumlich-zeitlich aufgelöst verfolgt (Abbildung 1 f). Im Speziellen wurde die Aufweitung des Kristallgitters in Richtung der c-Achse mit zunehmender Verweilzeit verfolgt (Abbildung 1 g). Es wurde gefunden, dass die Bildung von Spezies des Kohlenwasserstoffpools (hydrocarbon pool; HCP) diese Aufweitung verursacht. Zu einem späteren Zeitpunkt werden koksartige aromatische Verbindungen gebildet, die die Poren blockieren und den Katalysator deaktivieren. Bemerkenswerterweise entstehen die HCP-Spezies zunächst in der Mitte des Reaktors, um sich erst nach und nach zum Reaktorende auszubreiten. Die von Wragg et al. entwickelte Methode bietet neue Einblicke in die Induktionsphase der MTO-Reaktion und den komplexen Deaktivierungsmechanismus der Katalysatormatrix.
Es ist klar, dass Röntgenbeugungsmethoden allein kein vollständiges Verständnis der Funktionsweise katalytischer Festkörper erschließen können. XRD kann jedoch mit anderen Synchrotrontechniken gekoppelt werden – etwa EXAFS (extended X-ray absorption fine structure) oder Röntgenfluoreszenz –, um der XRD unzugängliche Parameter wie z. B. die chemische Umgebung spezifischer Elemente zu quantifizieren. Solche Ansätze können darüber hinaus durch IR-, UV/Vis- und Fluoreszenzmikroskopie und -spektroskopie erweitert werden. Sicher ist, dass existierende Probleme Anstöße zur Weiterentwicklung der hier beschriebenen Methoden geben werden. Oberflächenbeugung ist besonders empfindlich gegenüber Temperaturschwankungen, was die Probenausrichtung relativ schwierig macht. Streulichtintensität und Detektorempfindlichkeit fallen mit wachsender Strahlungsenergie rasch ab, während andererseits die begrenzte Zeitauflösung tomographischer Experimente immer noch eine wesentliche Einschränkung für die Beobachtung schneller Prozesse bedeutet.
Mit der Einführung der Synchrotrons dritter Generation hat sich das Gebiet der Röntgenbeugung in den letzten zehn Jahren massiv weiterentwickelt. Weitere Verbesserungen von Strahlbrillanz und -kohärenz, der Aufnahmegeschwindigkeit und Empfindlichkeit von Röntgendetektoren stehen in Aussicht. Bedenkt man zudem das Potential von Freie-Elektronen-Lasern (FELs),5 so steht der Röntgenbeugung eine brillante Zukunft bei der Aufklärung katalytischer Prozesse bevor.