Die Chemiker schaffen durch Tagungen und Zeitschriften eine europäische Identität
Graphical Abstract
„… Der 6. EuCheMS Chemistry Congress wird im September 2016 in Sevilla stattfinden. Die EuCheMS repräsentiert mehr als 160 000 Chemiker aus mehr als 40 Mitgliedsgesellschaften. ChemPubSoc Europe ist ein Zusammenschluss von 16 europäischen chemischen Gesellschaften aus 15 Ländern. Diese Initiativen haben erheblich zur Schaffung einer europäischen chemischen Identität beigetragen …” Lesen Sie mehr im Editorial von Luis A. Oro.
Es herrscht breite Übereinstimmung in der Einschätzung, dass die Chemie für das Wachstum der Wirtschaft und die globale Nachhaltigkeit von größter Bedeutung ist. Vor zehn Jahren, 2006, fand in Budapest der erste European Association for Chemical and Molecular Sciences (EuCheMS) Chemistry Congress statt. Rund 2300 Gäste aus mehr als 50 Ländern nahmen daran teil. Seither wurde diese europäische Tagung alle zwei Jahre von anderen nationalen chemischen Gesellschaften ausgerichtet: 2008 in Turin (Società Chimica Italiana), 2010 in Nürnberg (Gesellschaft Deutscher Chemiker), 2012 in Prag (Česká společnost chemická) und 2014 in Istanbul (Türkiye Kimya Derneği). Diese europäische Veranstaltung ist zweifelsohne eine bedeutende wissenschaftliche Plattform sowohl für die europäischen Chemiker als auch für deren Gäste aus anderen Teilen der Welt geworden; ihr Ziel ist es, Diskussionen zu erleichtern, die die Sache der Chemie in Europa stärken, und einen Fluss an Ideen, Gelegenheiten und Lösungen zu stimulieren, von dem die Chemie und die Menschheit profitieren. Meist nehmen weit über 2000 Personen aus rund 60 Ländern an der Tagung teil. Der 6. EuCheMS Chemistry Congress wird im September 2016 in Sevilla stattfinden; diese lebendige Stadt mit ihrer reichen Kultur liegt im südspanischen Andalusien.
Das wissenschaftliche Komitee unter dem Vorsitz von Peter G. Edwards (University of Cardiff) hat ein spannendes, viele Bereiche der Chemie abdeckendes Programm zusammengestellt. Acht Themen werden im Vordergrund stehen: A) Ausbildung und Gesellschaft, B) Umwelt, Energie und Nachhaltigkeit, C) neue chemische Verbindungen: Synthesen, Methoden und industrielle Prozesse, D) Katalyse, E) Materialien und Nanochemie, F) Eigenschaften der Materie, G) physikalische und analytische Methoden der Chemie sowie H) Chemie in den Lebenswissenschaften. Darüber hinaus werden einige Bereiche, die derzeit besonders wichtig sind, in Gesprächsrunden oder Workshops behandelt werden. Ihre Teilnahme als Hauptredner haben etwa 130 Wissenschaftler zugesagt, darunter vier Nobelpreisträger (Ada Yonath, Richard Schrock, Aaron Ciechanover und Jean-Marie Lehn) sowie Avelino Corma, Spaniens höchstdekorierter Chemiker, und es wird insgesamt rund 400 Vorträge geben. Die Tagung in Sevilla wird von der Asociación Nacional de Químicos de España (ANQUE), unterstützt von den wichtigsten wissenschaftlichen und Industrieorganisationen wie der Real Sociedad Española de Química (RSEQ), ausgerichtet.
Die EuCheMS (siehe http://www.euchems.eu/), die für diese Tagungen verantwortlich ist, ist seit 2006 die Nachfolgerin der 1970 gegründeten Federation of European Chemical Societies. Ihr Ziel ist es, eine Plattform für wissenschaftliche Diskussionen zu schaffen und mit einer gemeinsamen, unparteiischen europäischen Stimme bei zentralen die Chemie und verwandte Themen betreffenden politischen Anliegen zu sprechen. Sie repräsentiert mehr als 160 000 Chemiker aus mehr als 40 Mitgliedsgesellschaften und anderen Organisationen mit Chemiebezug. Ich hatte die Ehre, von 2008 bis 2011 als EuCheMS-Präsident fungieren zu dürfen. Meine Ziele waren, eine europäische Identität der chemischen Gesellschaften zu schaffen, eine EuCheMS-Strategie für 2009–2013 zu entwickeln und diese zu implementieren sowie die EuCheMS als unabhängige Funktionsorganisation in Brüssel zu etablieren. Die EuCheMS ist jetzt in Belgien als internationale gemeinnützige Gesellschaft registriert. Durch die Förderung der Chemie und die Bereitstellung von fachkundigem und wissenschaftlichem Rat will die EuCheMS an der Lösung der größten gesellschaftlichen Probleme mitwirken. Besonders wichtig sind die Aktivitäten der Divisionen und Arbeitsgruppen, die Netzwerke in ihren Fachgebieten schaffen, die Zusammenarbeit mit anderen europäischen und internationalen Organisationen fördern und hochrangige Tagungen organisieren. David Cole-Hamilton, Emeritus an der University of St Andrews, ist ihr Präsident von 2014 bis 2017, und Nineta Majcen ist die Generalsekretärin.
Die Publikationslandschaft der kontinentaleuropäischen chemischen Gesellschaften hat sich in den letzten 20 Jahren ebenfalls erheblich geändert. Die Zersplitterung in traditionelle Zeitschriften in den jeweiligen Landessprachen ist einem innovativeren, modernen Konzept gewichen. Anfang der 1990er Jahre gaben 16 kontinentaleuropäische nationale chemische Gesellschaften 15 wissenschaftliche Chemiezeitschriften heraus, die heute nicht mehr existieren. Einen Wendepunkt markiert hier das Jahr 1998, in dem das wegweisende bilaterale Kooperationsabkommen zwischen der Gesellschaft Deutscher Chemiker und der Koninklijke Nederlandse Chemische Vereniging über die gemeinsame Herausgabe der Chemischen Berichte/Recueil und von Liebigs Annalen/Recueil durch ein Abkommen mit den chemischen Gesellschaften von Frankreich, Italien, Belgien, Spanien, Portugal und Griechenland ergänzt wurde, das aus deren Zeitschriften zwei wirklich europäische Zeitschriften machte: das European Journal of Inorganic Chemistry und das European Journal of Organic Chemistry. Im gleichen Jahr wurden diese chemischen Gesellschaften gemeinsame Eigentümer von Chemistry—A European Journal, das 1995, initiiert durch Jean-Marie Lehn und Peter Gölitz, von der GDCh und Wiley-VCH gegründet worden war. Der Kreis der beteiligten chemischen Gesellschaften wuchs rasch um die von Ungarn, der Tschechischen Republik, Polen, Schweden, Österreich und später auch der Schweiz. Ich durfte an dieser Organisation europäischer nationaler chemischer Gesellschaften – ChemPubSoc Europe – von Anfang an mitwirken. Heute ist ChemPubSoc Europe ein Zusammenschluss von 16 europäischen chemischen Gesellschaften aus 15 Ländern, die mehr als 70 000 Mitglieder vertreten. Durch das Verschmelzen von 16 nationalen chemischen Zeitschriften sind mittlerweile 13 qualitativ hochwertige europäische Zeitschriften entstanden, die alle auf Englisch erscheinen. Ebenfalls von ChemPubSoc Europe herausgegeben wird das ChemViews Magazine. Alle beteiligten Gesellschaften, von denen die meisten seit über hundert Jahren existieren, fühlen sich wissenschaftlicher Qualität und Ethik verpflichtet, was sich im Anwenden der “EuCheMS Ethical Guidelines for Publication in Journals and Reviews” widerspiegelt. Die Zeitschriften von ChemPubSoc Europe, die bei Wiley-VCH erscheinen, sind unten abgebildet. Als jüngstes Mitglied der Familie fungiert ChemPhotoChem. In den meisten Fällen diente die Flaggschiff-Zeitschrift der GDCh, die Angewandte Chemie, als Starthelfer.
Zum EuCheMS Chemistry Congress in Sevilla werden natürlich zuvorderst sehr viele spanische Chemiker als Teilnehmer erwartet. Die chemische Forschung hat sich in Spanien in den letzten Jahrzehnten signifikant zum Besseren verändert, wie eine Reihe von Maßzahlen belegt. Nach der Zahl an Veröffentlichungen rangiert die spanische Chemie heute weltweit an achter Stelle (fast 4 % aller Veröffentlichungen). Wird die Zahl der Zitationen zugrundegelegt, erreicht Spanien sogar den siebten Platz. Damit gehört die Chemie zu den erfolgreichsten wissenschaftlichen Disziplinen in Spanien und steht auch im europäischen Vergleich mit dem vierten Platz nach Deutschland, Großbritannien und Frankreich gut da. Die spanische Chemie ist vollständig in den europäischen Rahmen integriert.
Innerhalb weniger Jahrzehnte haben die EuCheMS mit ihren Tagungen und ChemPubSoc Europe mit ihren Zeitschriften erheblich zur Schaffung einer europäischen chemischen Identität beigetragen. 35 Pioniere der Europäisierung (und Internationalisierung) der Zeitschriften werden in Sevilla als “ChemPubSoc Europe Fellows” geehrt werden. Ich hoffe, viele Leser der Angewandten Chemie in Sevilla begrüßen zu können. PS (nach der Online-Veröffentlichung): Dieses Editorial wurde vor der “Brexit”-Abstimmung geschrieben. Die Entscheidung von Großbritannien, aus der EU auszutreten, ist für eine europäische Identität der Chemie, und ganz allgemein des tertiären Bildungsbereichs, sicherlich eine schlechte Nachricht. Über viele Jahre hat sich immer wieder gezeigt, welche Vorteile die Zusammenarbeit bringt. Sollte es nicht gelingen, den freien Austausch von Ideen und Personen zwischen Kontinentaleuropa und Großbritannien aufrechtzuerhalten, dürfte das für die Naturwissenschaften im Allgemeinen und die Chemie im Besonderen große Nachteile mit sich bringen.